WIEN: Alle Macht der Hetz

  • VON ALEXANDER LUTZ
  • -AKTUALISIERT AM 09.04.2016-07:00
Bild: Picture-Alliance

Vor 250 Jahren beschloss Kaiser Joseph II., dass „von nun an zu allen Zeiten des Jahrs jedermann in den Bratter frey spazieren zu gehen, zu reiten, und zu fahren, erlaubet seyn soll“ – weitere Unterhaltungen eigenen Gefallens waren zulässig. Doch wie sieht das heute aus?

Es gibt eine kleine Brücke, um von der Böcklinstraße in den Wurstelprater zu kommen. Sie führt über einen Seitenarm des Konstantinteichs, an der Hauptallee. Es gibt es einen kürzeren Weg, aber der Umweg lohnt sich, vor allem für einen Fünfjährigen und seinen kleinen blauen Tretroller. Also für mich. Damals.

Die Brücke ist nichts Besonderes und mit ihren vier Metern auch nicht sonderlich lang, aber sie geht ein wenig bergauf und gleich darauf wieder bergab, so dass man richtig Fahrt aufnehmen konnte mit dem Roller. Hui! Ein großer Spaß für einen kleinen Buben.

Auch der Prater war genaugenommen nie etwas Besonderes für uns, die wir hier zur Welt gekommen sind, im sogenannten Pratercottage, dem Viertel zwischen dem Donaukanal und den Praterwiesen, das von der sanft geschwungenen Böcklinstraße durchzogen wird. Wir wurden in der hässlichen Kirche getauft, die zwischen all den Prachtvillen und Tennisplätzen immer wie ein Fremdkörper wirkte, besuchten hier den Kindergarten und gingen hier zur Schule.

Wenn der Wiener „Prater“ sagt, meint er das große Ganze

Der Prater war uns selbstverständlich, er lag vor unserer Haustüre. Gleich unsere ersten Lebenstage genossen wir hier im Kinderwagen, später auf dem Roller. Wir spielten Indianer im Gestrüpp hinter der Jesuitenwiese, im Praterstadion erlebten wir die ersten Fußballspiele, im Stadionbad lernten wir schwimmen und am Rodelberg Skifahren. In der warmen Jahreszeit spielten wir nach der Schule täglich Fußball, im Winter auf dem Heustadelwasser Eishockey. Und in der hässlichen Kirche empfingen wir die Erstkommunion.

Das Schöne daran, hernach ging es die wenigen Meter schnurstracks in den Wurstelprater, zwingend „Wurschtl“ ausgesprochen, obwohl er mit Würsten höchstens kulinarisch zu tun, nicht etymologisch. Seine offizielle Bezeichnung lautet „Volksprater“, aber daran hält sich keiner.

Wenn der Wiener „Prater“ sagt, meint er das große Ganze, auch „Grüner Prater“ genannt, diese herrliche Aulandschaft mit ihren Wiesen, Wäldern, Wassern, Sportanlagen, Reitställen und Rennbahnen, die sich vom Praterstern etwa zehn Kilometer weit bis zum Praterspitz erstreckt, wo der Donaukanal wieder in die Donau fließt.

„Jedermann ohne Unterschied“

Für den, der hier aufwuchs oder heute aufwächst, ist der Prater als einmalige Erholungs- und Vergnügungslandschaft eine Heimat. Das ist seit Generationen so und verdankt sich dem Reformkaiser Joseph II. Vor zweihundertfünfzig Jahren, am 7. April 1766, verfügte er per Dekret, „dass künftighin und von nun an zu allen Zeiten des Jahrs (…) ohne Unterschied jedermann in den Bratter (…) frey spazieren zu gehen, zu reiten, und zu fahren, (…) erlaubet, auch Niemanden verwehrt seyn soll, sich daselbst mit Ballonschlagen, Keglscheibn, und andern erlaubten Unterhaltungen eigenen Gefallens zu divertieren“.

Zuvor war der weitgehend unberührte Auwald über Jahrhunderte ein streng bewachtes kaiserliches Jagdgebiet, von vielen Nebenarmen der Donau geprägt, die sich immer wieder neue Bahnen suchten. Gejagt wurden Hirsche, Füchse, Wölfe, Wildschweine und sogar Braunbären.

Die Gesellschaft bestand nur aus allerhöchsten Adelskreisen. Dass es plötzlich „jedermann ohne Unterschied“ erlaubt sein sollte, diese Wildnis zu betreten, erweckte keinen geringen Unmut in der höfischen Welt. Darauf angesprochen, erwiderte der Kaiser einer beliebten Anekdote zufolge: „Wenn ich nur mit meinesgleichen verkehren wollte, dürfte ich mich nur in der Kapuzinergruft aufhalten.“

Zirkusse mit exotischen, wilden Tieren

Nunmehr offen für alle, entstanden in wenigen Jahren zahlreiche Buden wie Kasperltheater, einfache Ringelspiele und Cafés, und der Prater wurde zum beliebtesten Ausflugsziel der Wiener. Das kann man auch bei Mozart nachlesen. Am 3. Mai 1783 schreibt er an seinen Vater: „Ich kann mich ohnmöglich entschlüssen so frühe in die stadt hinein zu fahren. – das wetter ist gar zu schön – und im Prater ist es heute gar zu angenehm. wir haben heraus gespeist, und bleiben also noch bis abends 8 oder Neun uhr. (…) wegen der varierten arie müssen sie schon heute gedult haben – im Prater lässt sich das natürlicherweise nicht thun – und das schöne Wetter kann ich wegen meinen lieben weiberl nicht verloren gehen lassen.“

Das schöne Wetter und das liebe Weiberl scheinen Mozart sehr oft in den Prater geführt zu haben. „gemma in Proda, gemma ind Hetz, gemma zum Kasperl. Der Kasperl ist krank, der Bär ist verreckt, was thät ma in der Hetz draußt, im Prater giebts Gelsen und Haufen von Dreck.“

So der von ihm stammende Text seines Kanons, der uns sogleich die Grundpfeiler des Praters vorstellt. Der Kasperl, der Hanswurst, der Wurschtl, nach dem der Vergnügungsteil des Praters benannt ist. Die Hetz, im Wienerischen immer noch Bezeichnung für Spaß, Gaudium, kommt von der Tierhatz, die überall in Europa veranstaltet wurde, so auch im Prater. Die Gelsen, also Stechmücken, gibt es noch heute in ungewünschter Vielzahl – vom Dreck nicht mehr ganz so viel. Mozart erwähnt in einem Brief auch die erste in Österreich erfolgreich gestartete Ballonfahrt von Jean-Pierre Blanchard im Prater. Die zuvor zweimal gescheiterte Aktion war damals das Stadtgespräch. Wie überhaupt immer, wenn „ganz Wien“ von etwas sprach, es von nun an meist im Prater stattfand. Gigantische Feuerwerke, die ganze Schlachten nachstellten, wurden zum Renner; Zirkusse mit exotischen, wilden Tieren ließen das Publikum erschaudern.

Die einst größte Kuppel der Welt

An der Hauptallee, die den Prater etwa viereinhalb Kilometer lang in gerader Linie durchzieht, wurden Zigtausende Kastanienbäume gepflanzt. An ihrer Seite entstanden vornehme Kaffeehäuser, in denen Orchester und Kapellen spielten. Beethoven gab hier ein Konzert, später versetzten Joseph Lanner und Johann Strauß die Gäste in einen Walzerrausch.

Wie Fliegenpapier zog der Prater Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten an. Von den Höhergestellten, die in ihren Kutschen auf der Hauptallee entlangfuhren bis zu deren Ende, um dort im Lusthaus zu soupieren, bis zum einfachen Volk, das sich im Wurstelprater amüsierte. Dort erwarteten sie Ausrufer mit ihrem kräftigen Bariton, Hutschenschleuderer, Hallodris, aber auch Gauner, Taschendiebe und Prostituierte. Auf den zahllosen Parkbänken wurde geflirtet und geküsst, und wenn es die Pärchen in die kleinen Wäldchen und Büsche zog, waren natürlich einige Spanner zugegen. Aber auch Männer, die gerne ungefragt ihre intimen Körperteile zur Schau stellten – sie gibt es bis heute. Die ganze Skala der menschlichen Erscheinung fand und findet im Prater ihr Biotop. Letztlich waren sie alle gleich. Geradeso, wie vom Kaiser gewollt.

Den vielleicht größten Höhepunkt in seiner langen Geschichte erlebte der Prater 1873, als in Wien die Weltausstellung stattgefunden hat. Aus diesen Tagen stammt das Brücklein, das so keck bergauf und wieder bergab führt. Es ist damit die älteste noch bestehende Brücke Wiens. Als Hauptgebäude der Weltausstellung wurde im Prater die Rotunde errichtet. Den Aushub für ihr Fundament hat man zum Konstantinhügel aufgehäuft, ein künstlicher Wasserfall plätscherte in den kleinen darunter angelegten Teich, auf dem man mit Ruderbooten fahren konnte. Die Rotunde als zentrales Ausstellungsgebäude war ein ehrgeiziges Unterfangen. Ihre Kuppel hatte einen Durchmesser von hundertundacht Metern und war damit die größte der Welt. Man brauchte Platz. Und wollte Eleganz. Sämtliche Hütten und Buden des Wurstelpraters wurden deshalb im Zuge der Errichtung des Messeareals abgerissen. Anschließend begann die goldene Zeit des Praters. Sie dauerte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

Legendäres Ungetüm Toboggan

Eine große Schau folgte der anderen und versuchte, die jeweils vorige an Superlativen zu übertrumpfen. Von der Internationalen Elektrischen Ausstellung bis zur Adriaausstellung 1913, für die der Hafen von Triest nachgebaut wurde, um Österreichs Seemacht zu demonstrieren. Beliebt war das Aschantidorf, in dem einige afrikanische Familien wie in einem Tiergarten lebten und zu festgelegten Uhrzeiten ihre Bräuche, Tänze, Gesänge und Kämpfe zum Besten gaben. Immer größer, aufregender, gefährlicher mussten die Fahrgeschäfte werden, um die Sensationslust der Wiener zu befriedigen. Die ersten Kinos entstanden, die natürlich von Anfang an auch Programme nur für Erwachsene zeigten. Das Interesse an Erotik und menschlichen Kuriositäten war groß. Man bestaunte deshalb auch Liliputaner, die Frau mit Bart, die Frau mit den drei Brüsten oder die ohne Unterleib.

Größte Berühmtheit erlangte Nikolai Kobelkoff, der Rumpfmensch. Er kam ohne Arme und Beine als Sohn eines russischen Bauern zur Welt. Er lernte aber zeichnen, schreiben, konnte sogar ein Gewehr bedienen und allerlei kleine Kunststücke aufführen. Er heiratete, zeugte elf Kinder, tourte durch die ganze Welt und ließ sich, reich geworden, im Prater nieder. Im Jahr 1913 ließ er den Toboggan errichten, eine große Holzrutsche, wie sie schon in mehreren europäischen Städten erfolgreich betrieben wurde, und gründete eine der ersten großen Praterdynastien. Seine Nachfahren leben und arbeiten bis heute im Prater.

Der Toboggan, dieses riesige Ungetüm, war das bestaunte und gefürchtete Idol unserer Kindheit. Die größte Hürde bestand in dem steilen, schnellen Förderband, auf das man springen musste, um zu den Stufen des Turms zu gelangen. Es war schier unüberwindlich. Und für die Umstehenden war es der größte Spaß, zuzuschauen, wie die Gäste sich abmühten, denn kaum einer schaffte es, ohne peinliche Stürze und fremde Hilfe nach oben zu gelangen. Und dann war da noch diese Geschichte, die in Wien jeder kennt: Eine Frau soll vor vielen Jahren beim Herunterrutschen von einem Holzspan regelrecht aufgespießt worden und danach elend verblutet sein. Für uns Kinder erst recht ein Grund, den Toboggan zu meiden.

Verführerische Melange aus Düften und Geräuschen

Jahre später erst, als wir zwar alt genug waren, um die waghalsige Fahrt auf dem Förderband zu meistern, aber nicht mehr jung genug, um die doch recht gemütliche Rutschfahrt zu genießen, begriffen wir, dass man für den Toboggan ganz offenbar irgendwie nie das richtige Alter hat. Wir liebten ihn trotzdem.

Während unserer Jugendzeit war der Wurstelprater gefährlich und wild. Es gab viele dunkle Ecken, in die man sich niemals allein und schon gar nicht am Abend hinwagte. Wir hatten Angst vor den Jugendgangs und vor den Huren, die an allen Zufahrtsstraßen standen, unter jeder Parkbank lagen Präservative; und wir fürchteten uns vor den Strizzis, die junge Mädchen umsonst Autodrom fahren ließen, um Kunden zu keilen, aber auch ihre sexuellen Dienste in Aussicht stellten, wie man sagte. Und die zahlreichen verrauchten Wirtshäuser mit lauter Musik und schrecklich besoffenen Menschen waren für uns selbstredend tabu.

Aber die Atmosphäre, diese Kakophonie der Klänge und Geräusche, die panisch-amüsierten Schreie von den Achterbahnen, das Schnarren der Ausrufer, das Rattern der Fahrgeschäfte, das Klacken der Luftdruckgewehre und diese vielen Musiken, die aus allen Buden schallten und gegeneinander anspielten und auf dem Heimweg in der mechanischen Orgel des Pony-Karussells ihr würdiges Finale fand: All das war für uns eine wundervolle Symphonie, eingebettet in unverwechselbare Düfte. Zuckerwatte, gekochte und gebratene Würste, Salzgurken, die hier Kukuruz genannten Maiskolben und natürlich Lángos, eine ungarische Spezialität aus Hefeteig, die ausschließlich nach altem Öl und Knoblauch schmeckt. Dazu der Geruch vom verwitterten Holz der alten Buden und dem Schmieröl der Fahrgeschäfte, gewürzt mit Bier, Urin und Kot, dem Dreck, den Mozart meinte und der nicht nur von Hunden stammte. All das mischte sich zu einer Melange. Verführerisch. Unwiderstehlich.

Slowakischer Elektro-Schmarrn

Für uns Praterkinder war es auch in fortgeschrittenem Alter durchaus üblich, im Frühjahr einen Schnellcheck mit dem Fahrrad durch die Wiesen und natürlich auch durch den Wurstelprater zu unternehmen. Ein Kontrollgang sozusagen. Was hat sich verändert, was ist neu, und vor allem: Was gibt es nicht mehr? Und nachdem naturgemäß vor allem die eigene Jugend zur Messlatte wird, stehen der kollektiven nostalgischen Trauer alle Türen offen.

Weg zum Beispiel war plötzlich der „Eiserne Mann“, ein Gasthaus, das schon 1802 erwähnt wurde und in dem Geister- und Zaubervorführungen stattfanden. Ein gemütlich altwienerischer Gastgarten mit historischem Ausschank und einer sogenannten Pawlatschenbühne aus Holz, auf der noch vor zehn Jahren Musik- und Theaterveranstaltungen stattfanden. Verkauft an einen Spielautomatenbetreiber und jetzt dem Erdboden gleichgemacht. Oder das Restaurant „Zum Walfisch“, schon 1782 erwähnt, mit seinem wunderschönen Pottwal über dem Eingang. Plötzlich verschwunden.

Vor einigen Jahren erst trauten wir uns in ein von außen unscheinbares Lokal. Drinnen eine riesige Tanzfläche. Eine slowakische Band, bestehend aus einem Synthesizer und zwei Sängerinnen in knappen neonfarbenenen Trikots, beglückte das Publikum. Die sonderlichsten Geschöpfe konnte man dort – als wir keine Angst mehr vor ihnen hatten – auf dem Parkett entdecken. Heruntergekommene Männer in Anzügen aus den sechziger Jahren, die sie seit damals nie gewechselt haben. Ältere Frauen mit dicken tätowierten Armen und ausgeschlagenen Zähnen. Staunend sahen wir, wie sie sich – ganz nach alter Schule – in Paartänzen vereinten und zu dem elektronischen Schmarrn wiegten, drehten, lachten und Schmäh führten. Mit ein bisschen Phantasie fühlten wir uns zurückversetzt in die goldene Zeit des Praters, die von jenem welken, süßen Charme durchzogen war wie die Welt, die Joseph Roth so unnachahmlich aufleben ließ in seinen Schwanengesängen auf die verstorbene k. u. k. Monarchie.

Alles, was sich länger als zehn Jahre hält, wird zum „Wahrzeichen“

In den glasigen Augen der betagten Tänzer blitzte ein Moment von Glück auf, des Tanzes wegen vermutlich, der Musik wegen wohl eher weniger, aber vielleicht war es auch das Glücksgefühl, das einem ein Gulasch und ein paar Gläser Bier bescheren, die beiden urwienerischen Grundnahrungsmittel, die einen hinwegträumen lassen über vieles, was einen erst hierher gebracht hat. Auch dieses Lokal gibt es nicht mehr. Abgebrannt.

Was kaum jemand weiß: Die Rotunde, das weltweit einzigartige Gebäude, hätte unmittelbar nach der Weltausstellung 1873 geschleift werden sollen. Nachdem aber schon der Bau der Stadt ein finanzielles Desaster bescherte, fehlte dafür schlicht das Geld. So wurde sie zu einem der ersten Wahrzeichen des Praters – bis sie im Jahre 1937 einem spektakulären Brand zum Opfer fiel.

Genaugenommen war der Prater immer ein Provisorium. Jeder hat einfach irgendetwas irgendwo hingestellt, wieder abgerissen und etwas Neues gebaut, solange es die Pachtverträge erlaubten und die Aussicht auf Gewinn günstig erschien. Alles, was sich länger als zehn Jahre hielt, wurde dann schnell zum „Wahrzeichen“.

Wienerisches Kasperltheater

Auch der Toboggan gehörte dazu, wurde aber im Jahr 2000 wegen Baumängeln geschlossen – und sollte abgetragen werden. Da stand er nun wie ein alter morscher Baum, ein trauriger Greis, der seinem Ende entgegendämmerte. Der letzte seiner Art. Und in den Seelen der Wiener, die sich sonst so leicht in Resignation flüchten, begann es zu brodeln. Was bleibt denn noch vom guten alten Prater, von seiner Einmaligkeit, von den Erinnerungen unserer Kindheit? Gut, wir haben das Geisterschloss, die älteste Geisterbahn der Welt, das Riesenrad, das Pony-Karussell mit seinen echten Pferden und das gegenüberliegende Schweizerhaus, dessen Ursprünge in der Zeit liegen, als der Prater noch Jagdgebiet war. Aber der Toboggan gehört doch auch dazu. Im letzten Moment gelang es einem engagierten Paar, dass er unter Denkmalschutz gestellt, restauriert und wieder in Betrieb genommen wurde. Welch glücklicher Ausgang! Welch gnädiges Schicksal.

Vielleicht war die Rettung der Rutsche den allgemeinen Vorbereitungen auf die Fußball-Europameisterschaft 2008 zu verdanken. Der Prater sollte sauberer, sicherer und schöner werden. Die Umsetzung dieser Pläne verlief allerdings weniger glücklich. Ein französischer Themenparkspezialist wurde engagiert, und nach drei Jahren legte er für 1,3 Millionen Euro Gage ein Konzept vor, das den ganzen Wurstelprater umfassen sollte, und eine Art Alt-Wiener Disneyland darstellte. Das Geschrei war groß.

Die Vergabe des Bauvorhabens ohne öffentliche Ausschreibung, der jahrelange Streit mit den Praterunternehmern, der Konkurs mehrerer beteiligter Firmen, die heftigen Debatten über Ästhetik, Sinn und Unsinn des Ganzen – man kann es nur als echt wienerisches Kasperltheater bezeichnen, ein einziges großes Gewurschtl. Also letztlich dem Ort höchst angemessen!

Der Wurstelprater braucht kein Konzept

Übrig geblieben ist am Ende nur die Neugestaltung des Haupteingangs beim Praterstern, direkt neben dem Riesenrad. Was da jetzt steht, zu Baukosten von sechzig Millionen Euro, ist in seiner geschmacklosen Monstrosität nicht zu beschreiben. Wir sehen eine aberwitzige Mischung aus pseudohistorischen Stilen zwischen Barock, Biedermeier und Jugendstil. Man fühlt sich eher an Las Vegas erinnert als an das „Wien um 1900“, wie das Motto der Platzgestaltung lautete. Diese Stahlbetonkulissen mit ihren billig aufgemalten Fassaden sind schlimmer noch als Kitsch. Sie sind schlicht erbärmlich.

Dabei hat der Wurstelprater so etwas gar nicht nötig. Er braucht kein Konzept. Und er braucht schon gar keinen Eingang, weil er von überall her zugänglich ist. Er braucht auch diese lächerlichen Plastikfiguren nicht, die jetzt allenthalben im Weg stehen, Flaneure im Gewand der Jahrhundertwende, oder diese sinnlos lustigen Clowns, die uns von Fahnenstangen ohne Fahnen entgegengrinsen. Dabei ist gegen Kulissen an sich nichts einzuwenden. Der Prater war immer schon ein großes Potemkinsches Dorf. Und auch Themenparks gab es hier schon immer. Einer der berühmtesten und ersten der Welt befand sich am heutigen Pratervorplatz.

„Venedig in Wien“ hieß die Schau, die der Theaterunternehmer Gabor Steiner 1895 präsentierte. Er baute quasi eine ganze Stadt, eine phantastische Traumwelt, mit zahlreichen Palazzi, Plätzen, Cafés, Kanälen, Brücken, Gondeln und dazugehörenden Gondolieri. Eine Sensation, von der natürlich ganz Wien sprach. Man war im Venedig-Fieber. Sogar Arthur Schnitzler erwähnte sie in seinem Stück „Liebelei“. Der Dogenhof in der Praterstraße, im venezianischen Stil erbaut, und auch die Venediger Au, eine Straße außerhalb des heutigen Praters, erinnern noch heute daran.

Das Riesenrad als Symbol des Wiederaufbaus

Im Jahr 1897 verpachtete Gabor Steiner einen Teil des Geländes an einen Engländer, um dort – in Hinblick auf das bevorstehende fünfzigste Thronjubiläum Kaiser Franz Josephs – das Riesenrad errichten zu lassen. Bald wurde es zum wichtigsten Wahrzeichen nicht nur des Praters, sondern – neben dem Stephansdom – auch ganz Wiens. Das wechselvolle Schicksal des Riesenrads liest sich wie ein Spiegel der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Engländer wurde 1916 enteignet. Der neue Besitzer, Eduard Steiner, nicht verwandt mit Gabor, wollte es abreißen lassen, aber wieder einmal fehlte das nötige Geld. Im Jahr 1938 wurde das Riesenrad „arisiert“, so wie auch Gabor Steiners gesamter Besitz. Sechs Jahre später wurde Eduard Steiner in Auschwitz ermordet, im selben Jahr starb Gabor Steiner im Exil in Beverly Hills, und das Riesenrad brannte komplett aus.

Wie ein trauriges Gerippe ragte es über das zerbombte Gelände. Nach dem Krieg wurde es so schnell wie möglich wieder in Stand gesetzt, gleichsam als Symbol für den Wiederaufbau. Weltberühmtheit erlangte es nicht zuletzt durch die Szene im Waggon mit Orson Welles aus dem Film „Der dritte Mann“ mit dem vollkommen verwüsteten Prater als dramatischem Hintergrund.

Was für eine bezaubernd romantische Filmkulisse hingegen muss „Venedig in Wien“ fünfzig Jahre zuvor gewesen sein. Das war großes Hollywood-Kino, lange bevor es ein solches gab. Ein Film, in den man selbst eintauchen und die Hauptrolle spielen konnte. Gabor Steiners Sohn Max, der bei Richard Strauss und Gustav Mahler Musik studierte, tollte als Kind vermutlich täglich durch diese Wunderwelt. So erscheint es nur naheliegend, dass es ihn nach Los Angeles zog, wo er mehr als 380 Filmen seine Melodien schenkte, darunter „Vom Winde verweht“ und „Casablanca“. Er wurde einer der bedeutendsten Komponisten der Filmgeschichte und gewann drei Oscars. Peter Lorre übrigens, der in „Casablanca“ mitspielt, wohnte in seiner Jugend von 1917 an ebenfalls in der Böcklinstraße, und zwar im selben Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Seine Familie stammte aus der heutigen Slowakei. Damals zogen viele jüdische Familien in das Pratercottage, und es gingen zahlreiche Prominente aus dem Stadtteil hervor: Elias Canetti, Karl Goldmark, Hanns Eisler, Simon Wiesenthal. Und viele von ihnen, die das Glück hatten, das Dritte Reich zu überleben, kehrten nach dem Krieg wieder hierher zurück.

Es ist alles so sauber geworden

Aber auch wir jüngeren Praterkinder blieben der Heimat treu und verfolgen die Veränderungen. Auf der Jesuitenwiese gibt es jetzt mehr Spielplätze und auf dem Rodelberg eine Beschneiungsanlage, was wir zunächst für einen Witz hielten, denn er ist keine zehn Meter hoch. Und immer wieder zieht es uns in den Wurstelprater, meist jedoch nur ins Schweizerhaus, berühmt für seine gegrillten Stelzen, sein Budweiser Bier, die Kartoffelpuffer und Pommes Frites.

Den Rest betreten wir selten. Es ist alles so sauber geworden. Die Autos wurden schon vor Jahren ausgesperrt, die Huren verbannt. Fast scheint es, als hätten sie auch die Gerüche neutralisiert. Und überall das monotone Stampfen des immer gleichen Discosounds, der aus jedem noch so kleinen Fahrgeschäft dröhnt.

Möchte man diesem Lärm entfliehen, empfiehlt es sich, die paar Kilometer vorbei an den Tausenden von Kastanienkerzen bis zum Ende der Hauptallee zu radeln und das Lusthaus aufzusuchen, dieses kleine Barockjuwel aus dem Jahr 1783. Es ist nie zum Wahrzeichen geworden, und so lebt es immer noch als Oase der Gelassenheit und Stille.

Oft wandern wir dann um das unmittelbar dahinter gelegene Mauthnerwasser, diesen völlig unberührten Flecken, mit seinem Schilfgürtel, seinem Dickicht und den uralten Bäumen, die gerne von Bibern angeknabbert werden.

Unlängst waren wir nach Jahrzehnten wieder einmal in der vielleicht gar nicht so hässlichen Kirche in der Böcklinstraße. Kürzlich erhielt sie eine neue stattliche Orgel, die sich wirklich hören lassen kann. Ihr zu Ehren wurde ein großes Fest gefeiert, das den ganzen Tag dauerte. Zum Abschluss am späten Abend wurde der Auftritt eines Indie-Popstars angekündigt. Die Kirche wurde mit Weihrauch eingenebelt und war gerammelt voll, ganz Wien sprach davon.

Es gab auch ein Buffet, doch es war schnell abgeräumt war, weshalb ich mit dem Fahrrad zum Schweizerhaus fuhr, um Pommes Frites für mich und ein paar Freunde zu holen. Ist ja nicht weit, ein paar hundert Meter. Aber dann nahm ich kurzentschlossen einen kleinen Umweg – über eine kleine unbedeutende Brücke, auf der es so lustig bergauf und bergab geht.

Alexander Lutz (Jahrgang 1964) lebt als Schauspieler und Musiker in Wien. Zuletzt war er an der Seite von Harald Krassnitzer in der Serie „Paul Kemp – Alles kein Problem“ zu sehen.

Quelle: F.A.Z.

Hier können Sie die Rechte an diesem Artikel erwerben.

Hinterlasse einen Kommentar